Einmachgläser

Ich hätte schwören können, dass ich müde bin. Beim Hinlegen. Hätte ich es geschworen. Aber auf dem Bett angekommen, ist es gar nicht angenehm. Das Liegen. Und die Augen gehen auch die ganze Zeit von selber auf. 

Es ist 10 Uhr vormittags. Ausruhen, sage ich mir, kurz ausruhen.
Ich liege steif auf dem Bett, wie ein Nussknacker. Angespannt. Wie ein Skispringer. Ich versuche mich zu entspannen, den Kiefer und die Schultern. Das geht überhaupt nicht.
Das Herz klopft. Eigentlich nicht schneller als es soll. Es klopft expansiv. In mir ist für nichts anderes Platz. Ich kann kaum Luft holen. Bin außer Atem. Ich liege also bewegungslos auf dem Bett und bin völlig außer Atem.

Heute Morgen ist das herrliche Kind um kurz nach 5 Uhr wach geworden. Wir haben gespielt und gefrühstückt. Sind pünktlich am Kindergarten gewesen.
Der ganze Morgen ist komplikationsfrei verlaufen.
Ich habe die ganze Zeit nicht gewusst, wie ich es schaffen soll. Das alles. Den Ablauf. Den Alltag. Die Prüfung.

Dann war ich in der Klinik.
Habe die Patientin besucht, die sich nicht für und nicht gegen ihr Kind entscheiden konnte.
Das Baby ist da. Seit 3 Tagen.
Die Patientin sieht blass aus. Sie sitzt im Bett, das Baby liegt auf ihrem Schoß.
Das Baby ist wunderschön.
Sie sieht derangiert aus, das Shirt ist fleckig, ist schief geknöpft. Milcheinschuss. Ihre Haare sind wild. Sie ist auch wunderschön.
Sitzt da eingehüllt in einer Aura aus Ratlosigkeit und Überforderung.
"Sie haben es geschafft", sage ich, "die Schwangerschaft ist geschafft".
"Das Stillen klappt gut," antwortet sie, "der Körper kann das hier, einfach so."
Der Kaiserschnitt sei ziemlich schlimm gewesen. Sie könne sich kaum bewegen.
Ich bin stolz auf sie und habe den deplazierten Wunsch, sie zu umarmen.
"Wie fühlen Sie sich?" frage ich.
Sie zuckt die Schultern.
Guckt auf das Baby.
Sie sagt, "ich bin lieb zu ihr, ich will sie nicht im Stich lassen", sagt dann noch "aber ich will noch immer kein Kind".
Wir schweigen. Das Baby schläft die ganze Zeit. Die Patientin streichelt die ganze Zeit das Köpfchen.

Sie sagt, "ich habe Angst, dass ich mich jetzt wieder nicht gegen sie entscheiden kann und sie mitnehme. Und dann ist sie bei mir, ohne dass ich mich wirklich für sie entschieden habe."
Ich nicke. Ich verstehe.
Man kommt sich abhanden, wenn man ein Baby bekommt.
Man bekommt sich nie mehr ganz zurück.
Das geht nur gut, wenn man es will.

Sie hat noch 4 Tage Zeit, dann muss sie entscheiden ob sie mit oder ohne Kind das Krankenhaus verlässt.
Das Baby schläft.
Sie streichelt das Köpfchen.
Ich sage, "versuchen Sie sich zu erlauben,  Wünsche zu haben und Bedürfnisse".
Wollen geht gerade nicht. Und das Nicht-Wollen führt nirgendwo hin.

Ein Teil von mir will das Kind mitnehmen. Ihr abnehmen. Und aufnehmen. Ich kann das. Ich weiß noch, wie das geht.
Es tut mir körperlich weh, meine Patientin so ratlos und schutzlos zu sehen. Und es tut weh, das Baby so schutzlos zu wissen.
Es ist kein Halt zu spüren. Es trägt nicht.
Das Bodenlose.
Und mittendrin in diesem Bett, in diesem Shirt, das für ihren früheren Körper gemacht ist, sitzt meine Patientin mit dem Baby.
Und bewegt nur die rechte Hand, streichelt das Köpfchen.

Sie ist zerstreut. Eine Schwester bringt frische Wickel gegen den Milchstau.
Ich verabschiede mich.
Möchte das Bett raus schieben, weg von hier, zu mir nach Hause. Beide groß ziehen.
Ich bin unendlich traurig.
Müde, denke ich. Ich bin müde und wahnsinnig alt.

Am Nachmittag kommt C. Wir wiederholen zusammen. Ich bin sehr schlecht heute.
Dieses Bild von meiner Patientin und dem Baby. Nimmt sich den ganzen Platz.
Ich denke, dass die beiden auf der ganzen Welt doch nur einander haben.
Wenn nur. Es gelänge. Daran zu wachsen. Zusammenwachsen.

Ohne es zu wollen, geht es nicht. Das Muttersein. Die eigene Bedürftigkeit aufgeben zugunsten der Bedürftigkeit des Kindes. Den Wunsch vom Versorgt-Werden aufgeben und selbst versorgen.
Das muss man wollen.
Und dann findet man sich, wenn man viel Glück hat, in einem Zuhause wieder, das trägt und nährt.

Der herzvolle Vater erkundigt sich nach der Patientin und dem Baby. Sagt, "dann nehmen wir es eben, das können wir doch noch", lacht dabei. Sagt dann noch, "dann brauche ich eine Wohnung im selben Haus" und schmiert sich ein Butterbrot.
Ich mag ihn sehr in diesem Moment.
Ich küsse das herrliche Kind heimlich von hinten in seine Locken.
Der Boden unter meinen Füßen trägt.
Ich wünschte, ich könnte es abfüllen in große Einmachgläser. Und es ihnen bringen.
Meiner Patientin und dem Baby.






Beliebte Posts aus diesem Blog

Klar kommen

In der Liebe bleiben

Das Leben einer Königin