Impostor
Wir waren bei der Ärztekammer.
C. und ich.
Haben uns der Anmeldung zur Facharzt Prüfung gestellt.
Beide haben wir jeweils 2 Ordner dabei, einen mit den Originalen und einen mit Kopien in zweifacher Ausführung.
Alles, was wir jemals gelernt haben, alle Seminare, Fortbildungen, sämtliche Nachweise. In meinem Fall die ganze Arbeit der letzten fast 9 Jahre.
Die zuständige Sachbearbeiterin hat wilde Haare, eine Mähne, ursprünglich schwarz, mittlerweile grau durchzogen. Sie trägt eine Maske, so wie wir auch, sie zeigt uns ihr Gesicht nicht. Auch nicht zur Begrüßung.
Sie lächelt nicht.
C. hat alles kompakt und übersichtlich zusammen. Alles aus einem Guss. Sie sitzt der Sachbearbeiterin mit einer Leichtigkeit gegenüber, freundlich und höflich, klar, souverän. Alles in Ordnung mit C.'s Anmeldung. Findet C. auch. Ich bin beeindruckt.
Dann sitze ich der Sachbearbeiterin gegenüber und kann den Impuls nur schlecht unterdrücken, mich zu erklären.
Von Anfang an. Alles zu erklären. Und mich zu entschuldigen.
Mein Ordner ist knallvoll. Kaum zu glauben, was ich alles gemacht habe in den letzten Jahren.
In Österreich, in Deutschland, in der Schweiz, in Belgien, auf Kongressen, speziellen Fortbildungen, etc.
Die Sachbearbeiterin geht jede Bescheinigung, jedes Zeugnis, jede Bestätigung mit mir durch.
Ich habe bei jeder einzelnen Seite, die sie sich ansieht das Gefühl, das wäre alles nicht echt oder zumindest irrelevant und ganz bestimmt das Falsche, wahrscheinlich ungültig, nicht ausreichend.
Das Impostor Syndrom ist ein "psychologisches Phänomen, bei dem Betroffene von massiven Selbstzweifeln hinsichtlich eigener Fähigkeiten, Leistungen und Erfolge geplagt werden und unfähig sind, ihre persönlichen Erfolge zu internalisieren". Sagt Wikipedia.
Und liefert eine Erklärung.
Für meine schwitzigen Hände.
Ganz hinten im Ordner ist meine Approbationsurkunde und mein Studiumsabschluss Bescheid abgeheftet.
Keine Ahnung wie ich es geschafft habe, mein Studium abzuschließen.
Habe keine Ahnung, wie ich jemals diesen Facharzt machen soll.
Die Sachbearbeiterin notiert, was fehlt.
Oder anders bestätigt sein muss.
Deutscher.
Nicht so österreichisch.
In 3 Wochen ist mein nächster Termin bei ihr. C. sagt, sie kommt mit.
Alleine könnte ich nicht hin.
Würde meiner eigenen Geburtsurkunde nicht glauben, dass es mich gibt.
Gestern im Dienst sehe ich eine Frau, sie ist Ende 20.
Sie hat 2 Abschlüsse in internationalem Recht. Ist klug, merke ich sofort. Obwohl sie mit über 3 Promille unglaublich betrunken ist, stand- und gangunsicher, permanent aufstößt und mich ihre Fahne fast umhaut. Sie ist alkoholabhängig. Wurde gestern Nacht in ihrer Wohnung vergewaltigt. Von einem Mann, den sie zuvor am Kiosk kennengelernt hat, als sie sich Schnaps gekauft hat. Ausgeraubt hat er sie auch. Sie hat danach einfach weiter getrunken.
Sie zuckt die Achseln, macht eine Bewegung mit den Händen, die nirgendwo hinführt.
Der Hausmeister habe sie gefunden und die Rettung gerufen.
Sie beantwortet meine Fragen.
Erzählt von sich.
Lässt kein gutes Haar an sich.
Beide Arme sind übersät mit Hämatomen.
Sie sagt, der Bauch und die Oberschenkel Innenseite, der untere Rücken und der Po waren ebenfalls grün und blau.
Erzählt an irgendeinem Punkt, ihr Vater hätte immer gesagt, er lebe nur dafür, dass seine Kinder erfolgreich werden. Ihr Doktorvater habe ihr Tags zuvor eröffnet, dass er nicht weiter für sie zuständig sein wolle, er sehe den erfolgreichen Abschluss dieser Arbeit nicht.
Sie sagt, "sehen Sie mich an; ich bin widerwärtig, ich bin lächerlich."
Ich frage, ob ich jemanden anrufen könne für sie.
Sie wählt die Nummer des Vaters.
"Was darf ich erzählen?" frage ich. Sie sagt "Alles" und macht eine wegwerfende Handbewegung.
Ich spreche mit dem Vater.
Sage ihm, dass seine Tochter nicht in Lebensgefahr ist, aber psychisch in keinem guten Zustand.
Er weiß schon alles.
Von der Polizei.
Sagt, "ich weiß schon alles".
Ich frage "wollen Sie und Ihre Frau zu ihr?"
Er sagt, "jetzt noch? es ist doch schon nach 19 Uhr, das bringt doch nichts."
Ich weiß überhaupt nicht, was ich antworten soll. Sage "Mmhhhm."
Stehe auf dem Flur in der Notaufnahme und verstehe das Ausmaß der Haltlosigkeit, der Verlorenheit, der Entwertung meiner Patientin in diesen 4 Sekunden, in denen weder er noch ich wissen, wie nun weiter miteinander sprechen.
Ich finde, ein bißchen Impostor Schweißhände und Neurose hie und da ist ein Luxus.
Ich finde, das herrliche Kind sollte ein oder zwei Mal mehr hören, dass es mich froh macht und stolz. Und dass es so, so gut ist, dass er da ist.
Ich finde, wenn jemand in der Notaufnahme landet und aus allen Welten gefallen ist.
Auch oder vor allem aus denen, die sich dieser Jemand nie wirklich aneignen konnte.
Dann sollte da jemand anderer sein.
Auch nach 19 Uhr.
Sollte jemand anderer da sein.