Einerseits und Andererseits

"Ich würde auch mitmachen", sagt C., "aber ich will dir nichts wegnehmen." - "Hä?", sage ich, "spinnst du? Ich habe dich so oft gefragt, ob du mitmachen willst. Du hast immer gesagt, dein Schwerpunkt liegt woanders. NATÜRLICH musst du mitmachen, ich will dich dabei haben!" Also machen wir es zusammen. Die Ambulanz für peripartale seelische Gesundheit. Und heute habe ich meine erste Patientin gesehen.

Sie ist Anfang 40, arbeitet selbstständig in einem kreativen Beruf, ist eigentlich nicht mehr in der Beziehung mit dem Mann, der der Kindsvater ist. Sie ist in der 26. Woche schwanger. Mit einem gesunden Kind. Sie will nicht schwanger sein.  

Ein Spätabort steht im Raum.
Adoption steht im Raum.
Aversion steht im Raum.
Oder doch. Irgendwie behalten.
Im Raum steht die Ambivalenz.

Die Frau ist klein, sehr zierlich. Der Bauch ist kaum zu sehen. Sie sagt, sie wäre jahrelang schwer anorektisch, eigentlich immer untergewichtig und unweiblich gewesen. Sie stehe kurz vor den Wechseljahren. Und außerdem, eine Schwangerschaft habe man immer für unmöglich gehalten. Alle Ärzte. Immer.
Auch sie. 
Und sie habe es auch nie gewollt.
Sie könne nichts anfangen mit Mutterschaft.
Sie wolle sich nicht verbindlich einlassen. Habe Probleme mit Bindung. Sie wolle unabhängig sein. 

Sie habe sich im Grunde gerade getrennt, als das Kind entstanden ist. Der Mann wäre anklammernd, einengend gewesen.
"Und jetzt hat er das in mich hinein getan", sagt sie, "und mir meine Freiheit gestohlen."
Es soll weg sein. Weg gemacht, im Sinne von ungeschehen. 
"Wann haben Sie die Schwangerschaft bemerkt?" frage ich.
"Früh," sagt sie, "ich bin zu 3 Abtreibungs-Terminen nicht gegangen, als es noch möglich war. Ich frage mich immer, warum ich nicht gegangen bin." 
"Sie wollen nicht schwanger sein und Sie wollen nicht abtreiben." sage ich.
"Ich will mein altes Leben zurück." antwortet sie.
Ich nicke.
"Wenn ich eine Narkose bekomme und dann das Kind raus gemacht wird..." sagt sie und beendet den Satz nicht.
"Dass es kein Kind gibt, ist nicht mehr möglich", sage ich, "es gibt ein Kind in Abwesenheit oder ein Kind, das Sie großziehen."
Wir schweigen beide.

Ich frage sie, ob sie das Kind denn spüren könne.
"Es ist ein Mädchen", sagt sie. "Ich spüre es und verstehe nichts. Dass das ein Kind sein soll, verstehe ich nicht."
Sie sagt, es sei doch praktisch unmöglich dass sie schwanger sei.
"Glauben Sie, die Ethikkommission würde einem Abbruch zustimmen?" fragt sie.
Ich sage, "Nein, das glaube ich nicht. Und falls doch, glaube ich nicht, dass Sie zu dem Termin kommen würden."
"Ich will kein Kind." sagt sie, "ich weiß das genau."
Ich sage, "Sie müssen keine Mutter werden, auch wenn Sie entbinden."
Sie antwortet, "was ist mit der Verantwortung? Ich war das, ich habe das versaut, ich muss es auslöffeln."
Ich sage, "Verantwortung übernehmen Sie, wenn Sie das Kind ohne es zu gefährden austragen und dann Sorge dafür tragen, dass es sich gewollt und geliebt fühlt."
"Adoption ist doch auch eine Katastrophe für das Kind..." sagt sie.
Ich warte ab.
Sie redet weiter, "... ich will keine vaginale Entbindung. Ich will überhaupt nichts mehr zu tun haben mit Genitalien."
"Ein Kaiserschnitt ist sicher möglich" antworte ich.
"Wie soll ich die Schwangerschaft überstehen?" fragt sie, "ich hasse es." Sie legt den linken Zeigefinger auf den Bauch, knapp über dem Hosenbund. Sagt, "ich würde Hilfe brauchen."
Ich sage "Sie werden Hilfe bekommen."
"Es ist zu schwer." sagt sie. 
"Jeder Weg ist jetzt schwer, von hier an gibt es keinen leichten Weg mehr und kein Richtig oder Falsch", antworte ich. "Es ist schwer, ein Kind zu haben und Mutter zu werden. Es ist schwer, einen Fetozid und eine Totgeburt zu erleben. Es ist schwer, sich gegen ein Kind zu entscheiden und es von anderen großziehen zu lassen." 
"Ich weiß einfach nicht, warum ich es nicht haben weg machen lassen, sofort, gleich am Anfang." sagt sie.
"Wir können zu jedem Zeitpunkt das Verfahren rund um den Spätabort anstoßen", sage ich, "ich begleite Sie so oder so."
"Das ist doch furchtbar", antwortet sie.

Die Ambivalenz im Raum. 
Hat sich einen Stuhl genommen. 
Wir sitzen zu dritt.

Die Hände der Frau liegen unter dem Hosenbund. Auf ihrem Unterbauch.
"Und nun?" fragt sie. "Sie finden doch auch keine Antwort für mich. Ich will einfach nur weg laufen."
Ich sage, "wir treffen uns wöchentlich, wir sortieren die Fragen. Sie wollen kein Kind, keine Mutter werden. Sie sind zu den Abtreibungs-Terminen nicht erschienen. Spüren können Sie momentan nur Aversion. Wir arbeiten daran, dass Sie 'Einerseits' und 'Andererseits' spüren können. Nebeneinander. Und wir beobachten, was das mit Ihnen macht."

Sie steht auf. Zieht das Shirt über dem Bauch glatt, nach unten. Sagt dann "gucken Sie mal, ist das nicht riesig?" und zieht das Shirt wieder hoch, zeigt mir ihren Bauch. 
Ich muss lächeln und dann frage ich "ist das ein Gummiband, mit dem Sie die offene Hose da zusammen halten?"
Sie lacht. Sie habe keine Umstandsmode kaufen wollen. Zu viel sei ihr das. Zu viel Darauf- Einlassen.
Ich sage, sie solle sich Leggings zulegen. Sie seufzt.


Die Ambivalenz wartet an der Türe, verlässt mit der Patientin den Raum.


Ich bleibe noch ein bißchen sitzen. 
Sitze mit den Fragen.
Mit den Befürchtungen.
Mit ihrer Aversion vor dem, was sie sich unter dem Mutter-Sein vorstellt.
Und der Unmöglichkeit, eine Abtreibung zu haben.
Wir brauchen einen Stuhl für die Ambivalenz.
Und es gibt eine Idee von Hoffnung, knapp über dem Hosenbund, links am Unterbauch.
Keine Ahnung, wohin das führt.
Wir werden sortieren. 
Die Fragen.
Es aushalten.
Es austragen.
Den Kampf des Einerseits mit dem Andererseits.












 


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