Hinein blicken

"Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein."
Schreibt Nietzsche.
Und vielleicht hat er Recht.

Ich träume von Pater C.
Er ist so wie immer. Verwittert, dabei unverwüstlich, er lacht, hat eine Ausstrahlung wie ein warmer Kachelofen. Nimmt meine Hand. Sagt, wie immer, dass bei ihm alles in Ordnung ist. Ergänzt, dass er manchmal müde ist.
Im Traum weiß ich, dass er sterben wird. Bin außer mir, vor Freude ihn zu sehen, vor Angst ihn zu verlieren. Ihn verlieren zu werden.
Ich möchte die Rettung rufen. Und den Notarzt. Ich bitte ihn, bettel darum, dass er mit ins Krankenhaus kommt.
Weiß gleichzeitig, dass er in einem Krankenhaus gestorben ist.
Er ist da, so wie immer, und sagt, ich bin doch da. Ich kann nicht aufhören zu weinen.
Kann nicht aufhören zu spüren, dass ich ihn verloren haben werde.

In der nächsten Traumszene sitze ich im Kreis mit den anderen Kita Eltern. Wir verabschieden uns von den Erziehern des Krippenbereichs. Unsere Kinder sind jetzt 3 Jahre alt. Wechseln die Gruppe. Kommen in den Elementarbereich. Was auch immer das heißt.
Kindergarten heißt es.
Im Traum stehe ich andauernd auf, ziehe meinen Rock aus. Und wieder an.
Und wieder aus.
Er ist zu groß. Der Rock. Zu weit. Zu heiß.
Ohne bin ich nur in Unterhose.
Ich bin so schrecklich traurig. Weine die ganze Zeit.
Ich habe Pater C. verloren. Für immer.
Ich verliere A., unsere Erzieherin.
Ich verliere den furchtbaren Rock die ganze Zeit.
Ich weine und weine.

Beim Aufwachen ist mein Kiefer verkrampft. Meine Schultern sind steif.
Ich liege im Bett. Muss weinen.
Jeder Mensch muss jeden anderen verlieren.
Ich versuche mir das vorzustellen.
Stelle mich auf Zehenspitzen und gucke angestrengt in diesen Abgrund.
Es muss doch.
Möglich sein.
Etwas zu erkennen.
Das Verlieren kommt doch vor dem Wiederfinden.
Das Wiederfinden kommt doch nach dem Verlieren.

Der Abgrund blickt in mich hinein.
In meinem Hals klopft das Herz und ich bin auch dort, rund um den Kehlkopf, sperrig, eng, verkrampft.
Vom Weinen-Müssen und Nicht-Geweint-Haben.

Es hängt mir nach. Heute. Den ganzen Vormittag.
Es sitzt mir zuvorderst, das Weinen.
Ich möchte Pater C. wieder haben.
Ich möchte nicht, dass irgendjemand wirklich jemand anderen verliert.
Ich möchte, dass es den Himmel gibt.

Der Abgrund blinzelte nicht ein Mal.
Blickt. In. Mich. Hinein.
Ich erinnere mich daran.
Dass ich atmen kann. Den Hals hinunter. Um das Herz herum.
In den Raum hinter meinem Brustraum.
Siehst du, Abgrund.
Der Atem. Fließt.
Das Herz. Klopft.

Später am Tag in meinem Büro sortiere ich die Unterlagen für die Ärztekammer.
Die Nachweise. Die Zeugnisse.
Für die Facharzt Prüfung.
Ich denke darüber nach, was der Abgrund sieht, wenn er in mich hinein blickt.
Den Atem.
Das Herz.

Versucht der Abgrund etwas wieder zu erkennen, das mit ihm zu tun hat?
So wie ich heute Morgen, auf Zehenspitzen?

Weil ich keine weiteren Patientenkontakte habe heute, und weil ich mich mit der furchterregendsten Bürokratie auseinander setzen muss, die ich mir momentan vorstellen kann, weine ich noch ein bißchen vor mich hin in meinem Büro.

Der Abgrund.
Ich hab gewusst, dass es ihn gibt.

Scheinbar ist es jetzt so weit.
Reinschauen.
Nichts erkennen.
Weiter rein schauen.





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