In der Liebe bleiben


Morgens ist es sehr kalt. Sehr klar. Ein Himmel so sauber und zuversichtlich wie eine frischgewaschene Unterhose.
Sonnig ist es.
Der Abschied vom herrlichen Kind ist fröhlich und leicht, er winkt, sagt "Tschüss Mama!".
Ich gehe zur Klinik und spüre die Kälte vor allem in der Nase, trockene Winterkälte. Wie es sein soll.
2020 also.
Ich bin einverstanden.

Und dann.
Beginnt mein Dienst.
In dieser Parallelwelt.
Die Feiertage. Sind in ihrer Bürgerlichkeit und Familienbezogenheit eine Klippe für viele, für manche eine Katastrophe.
Und für einige nicht zu bewältigen.
Den Vormittag verbringe ich auf den Intensivstationen. In der Fragestellung der drei Konsile steht "Suizidversuch". Zwei Mal Tabletten Intoxikation. Ein Mal Schuß in die Brust mit einem Bolzenschußgerät.

Und dann.
Ruft eine Pflegekraft an.
Sagt, in einem Patientenzimmer im Bad hängt ein Patient stranguliert an der Dusche.
Ich renne los.
Rufe meinen zweiten Dienst an.
Sie rennt auch los.
Durch das Klinikgelände zurück zur Psychiatrie.
Im Laufen rufe ich den Hintergrund Oberarzt an und sie das Reanimationsteam.
Wir rennen durch die Station. Der Pfleger steht vor der Zimmertüre und muss sie erst aufsperren und mir ist klar, dass wir zu spät sind. Eine abgeschlossene Türe. Bedeutet nichts Gutes.
Meine Kollegin bleibt im Zimmer stehen, ich öffne die Türe zum Bad und sehe ihn.
Er ist tot.
Schon ein paar Stunden.
Meine Kollegin ist blass. Ich übernehme.
Sage ihr, sie soll zurück "an die Front" gehen, die Notaufnahme besetzen. Ich bleibe hier.
Rufe die Polizei an.
Sage den Reanimationseinsatz ab.
Erkläre den Patienten für tot. Ich gehe in diesem Badezimmer in die Hocke und notiere mir den Zeitpunkt des Todes, der in Wirklichkeit der Auffindezeitpunkt ist. Sehe hoch und sehe dem Patienten ins Gesicht. Die Augen sind offen.
Ich gucke ihn an. Ich kenne ihn nicht, habe ihn noch nie vorher gesehen.
Sehe jetzt in dieses Gesicht. Das.
Nicht sein Gesicht ist. Sondern war.
Es ist unnötig, so genau hinzuschauen. Ich kann nicht weg sehen.

Ich frage den Pfleger, ob er arbeiten kann oder jetzt raus genommen werden muss.
Er will seine Schicht beenden.
Ich sage, "wir dokumentieren jetzt sofort alles, was heute passiert ist".
Sitzen nebeneinander. Er fragt, ob ihn die Polizei verhören werde, ob er es hätte verhindern müssen, ob man ihn nun anzeigen könne.
Ich gucke ihm fest in die Augen.
Sage, es hätte vielleicht zufällig verzögert werden können, hätte in den frühen Morgenstunden ein Rundgang in genau dem Moment stattgefunden.
Manche psychischen Erkrankungen sind tödlich.
Und dieser Patient war schwer krank. Suchterkrankt. Depressiv. Fraglich vor seiner zweiten Inhaftierung.

Das Grauen.
Hat den Pfleger erreicht.
Ich sehe es ihm an.

Die Polizei befragt uns.
Zeigt sich merkwürdig schroff.
Wir informieren die anderen Patienten. Führen erste Krisengespräche mit ihnen.
Das Bestattungsunternehmen kommt. Die Polizisten sind wieder dabei.
Ich bleibe. Sehe zu, damit ich es mir nicht vorstellen muss.
Sie nehmen ihn ab. Packen den Körper in einen Sack. Lautlos. Behutsam. Tragen Anzüge. Schwitzen nicht. Sind absolut professionell.
Ich stehe im Weg.
Es riecht nach Kot und nach Tod. Es ist unerträglich stickig.
Ich kippe das Fenster.
Widerstehe dem Impuls, mich zu bekreuzigen. Kann er jetzt weg, hier raus, frei sein?
Denke flüchtig an Gott. Jemand sollte Gott erwähnen, finde ich.
Keiner sagt etwas
Ich begleite die Männer und den Sarg durch das Haus zum Auto.
Fühle mich schuldig. Stellvertretend für.
Weiß nicht für wen.

Der restliche Dienst verläuft irgendwie.
Es ist kaum auszuhalten, sofort wieder vor jemandem zu sitzen, der.
Depressiv ist.
Die Kinder vernachlässigt wegen der Persönlichkeitsstörung.
Ein Rezept einfordert, laut, hypoman, unfreundlich.

Ich denke an die Hände des toten Patienten. Kann mich nicht an sein Gesicht erinnern.

Dann wird es doch irgendwie 20 Uhr.
Übergabe an den Nachtdienst.
Nach Hause gehen.
Das herrliche Kind schläft.
Hat sich übergeben, musste so weinen weil die Mama nicht da war und das Schwimmbad nicht da war.
Der herzvolle Vater hat alles aufgeräumt.
Die Wohnung ist tip-top sauber.

Ich sitze jetzt in meinem Bett.
In mir hallt es. Wie es in den Ohren hallt, wenn man im Club zu nahe am Lautsprecher steht.
Das Grauen.
Erreicht mich dieses Mal anders.
In Bildern. Von.
Den Hände.
Und durch die penetrante Unfähigkeit das Gesicht zu erinnern.

2020. Echt jetzt?
So starten wir das?
Oder hat dieser unglückliche Mensch 2019 so beendet?

Ich sage mir. Es ist in Wirklichkeit. Einfach nur. Mittwoch.
Ein Mal mehr ist es Mittwoch.
Das ist kein Zeichen, kein Omen für irgendwas.
Es ist mein Job.
Die harte Seite meines Jobs.

Und 2020, wenn ich so will, hat um Mitternacht begonnen, als ich mein herrliches Kind im Arm gehalten und geborgen in meinem Bett gelegen habe.
Und morgens, mit dem frischgewaschenen Himmel.
Ich denke nochmal ein bißchen länger an Gott.
Werde jetzt zum herrlichen Kind in sein Bett krabbeln.
In der Liebe bleiben.
In der Liebe bleiben.










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