Regentonne

Das herrliche Kind will im Mama Bett schlafen. Selten genug, dass er das sagt - ich freue mich. Genug Platz von Anfang an.
Nur noch schnell die Wäsche aufhängen und seine Fingernägel schneiden, das geht gerade nur wenn er schläft.
Und dann Ruhe.
Und Kuscheln.

Ich gucke neben ihm im Bett auf dem Handy ganz leise Clips an von kleinen Kindern, die in Talent Shows auftreten und mit unglaublichen Stimmen wahnsinnig emotionale Songs singen und die Juroren zum Weinen bringen.
Keine Ahnung warum.
Ich weine mit.
Kann gar nicht aufhören.
Die Tränen fließen, als ob in mir eine riesige Regentonne, randvoll mit Rührung und großen Gefühlen, ausgekippt würde.
Meine Haare und das Kopfkissen sind ganz nass.
Kann gar nicht aufhören.
Keine Ahnung warum.

Was da los ist, frage ich mich.

Das herrliche Kind und ich haben den Tragesack gefunden. Wir drei, das Tragedings, das herrliche Kind und ich, waren unzertrennlich in den ersten 14 Monaten.
Immer und ausschließlich so bin ich mit ihm los gegangen.
Und ich habe es geliebt.
Habe mich verortet so, beim Gehen, mit ihm. Habe ihn und mich beruhigt so.
Ich zeige dem Kind Fotos und Videos von damals. Er zeigt auf den Tragesack. Möchte es ausprobieren.
Passt wirklich noch rein.
Findet es toll.
Und ich auch.
Momentan will er nach der Kita in meinen Arm und erstmal nur in meinen Arm.
Ein Kraftakt. Weil er groß ist und schwer. Im Tragesack leicht machbar.
Beim Abholen von der Kita heute habe ich den Tragesack mit und er möchte getragen werden.
Ich setze ihn rein, Bauch an Bauch, sein Kopf auf Kusshöhe, er hält sich mit einer Hand an meinem Ausschnitt fest und legt den anderen Arm um mich, wie früher, wie immer. Legt den Kopf an meine Brust.
Wir spazieren zu Fuss nach Hause.
Der große Dauenmantel packt uns beide ein. Das herrliche Kind isst seine Laugenstange, sagt "Mama, guck, Augen zu" und schließt die Augen.
Es ist der schönste Spaziergang.
Ich weiß, das ist ein Geschenk.
Noch einmal so nahe, im Mama Baby Ei, so innig und so miteinander.
Wer weiß, wie oft noch.
Ich merke mir alles ganz genau.
Mein herrliches, mein wunderbares Kind.

Am Nachmittag habe ich meine Freundin M. getroffen. Mit dem Baby. Das Baby hat auf meinem Arm geschlafen. Ich war so verzaubert von diesem Baby. Es war so vertraut, so gewohnt einen kleinen Baby-Körper zu halten.
Nichts davon habe ich vergessen.
Alles ist da.
Das Gefühl, nichts weiter tun zu wollen im ewigen Jetzt mit dem Baby. Nichts weiter zu müssen als es zu halten während es schläft.
Sonst nichts.
Nur das.
Die Ruhe im Zu-Zweit.
Nicht wegsehen können, das kleine Gesichtlein, die Händchen. Ewig hätte ich dieses Baby einfach weiter im Arm halten können.

Wir haben Kaffee getrunken und geredet.
Wie gut das getan hat.
In den letzten Wochen habe ich keine Kraft gehabt, nicht so wirklich, keine Energie mehr für meine Freundinnen.
Es geht uns allen ähnlich.
C., meine liebevolle, organisierte Freundin und Kollegin sagt heute in der Klinik zu mir, sie schaffe es derzeit nicht, sich aufzuraffen und soziale Kontakte zu pflegen. Traurig wäre sie darüber. Es gäbe den Job und das Mama Sein und dann wäre keine Energie mehr übrig, sie selbst zu sein.
Ich weiß.
Ich weiß.
Einsam ist das.
Nicht total schlimm, nicht so lichterloh schlimm. Aber leise doch sehr einsam.

Wir sollten alle im Hinterhof Hexenhaus zusammen wohnen. Meine Freundinnen und ich.
Und das Fräulein Ahorn.
Und meine Schwestern.
Und die Godi.
Um keinen Sozialkontakt pflegen zu müssen. Sondern einfach zusammen zum Einkaufen zu gehen. An der Mülltonne ein paar Minuten zu reden. Zum gemeinsamen Kaffee einfach nur nach Nebenan zu kommen.

M. und ich wollen die Kinder jetzt öfters gemeinsam abholen. Manchmal mit vorher Kaffee zusammen.

Das Dorf.
Es ist das Dorf, das wir brauchen.
Wir brauchen es um uns herum.
Es nach telefonischer Terminvereinbarung besuchen zu müssen, klappt nicht.
Meine Freundinnen sind das Dorf hier.
Ich werde darüber nachdenken, wie wir näher zusammen rücken können.

Und so lange mein wunderbarer Junge getragen werden will, eingekuschelt in meinen Mantel, werde ich ihn tragen.
Es abspeichern in mir.
Es bewahren in meinem Herzen.
Die riesige Regentonne randvoll machen mit Gefühl.
Zwei Herzen bräuchte ich, so sehr liebe ich ihn.





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