Gehirnstoffwechsel


Ich weiß jetzt, wer für unser finanzielles Schlamassel noch verantwortlich ist.
Ich.
Leider.
Ich bin eine Katastrophe.
Herr D., unser Bank-Mann hat nicht ohne Grund so merkwürdig tadelnd und von oben herab mit mir gesprochen.
Ich bin eine KATASTROPHE.
Wochengeld Limit ist gesetzt, von Samstag bis Samstag. Heute ist Sonntag und zu Mittag habe ich das Budget zu 200 Prozent ausgeschöpft.
Ein Einzelfall heute, unglückliche Umstände, eine Verkettung.
Ja.
So ist das aber oft.
Weil ich das Geld nicht zusammen halten kann. Lieber gebe ich es aus und gebe es her und denke an etwas anderes.
Das wird ein langer Weg.

Geben ist meine Stärke.
Geben ist scheinbar mein Problem.
Es ist verwirrend.
Mein Lehranalytiker sagt, ich pathologisiere momentan alles. An mir.
Zerlege mich.
Bin schrecklich wertend, abwertend.
Kann mir nicht vorstellen, dass es so, wie es ist, in Ordnung ist.
Dass ich in Ordnung bin.
Naja.
Ja.
Stimmt.
Aber irgendwie zurecht.
Die Finanzen sind nicht in Ordnung.
Die Beziehung ist getrennt.
Immer noch fällt es mir schwer, mich vom herrlichen Kind zu verabschieden. (Und dem Kind fällt es auch schwer.)
Es ist doch jetzt wichtig, zu zerlegen.
Oder nicht?
Es ist sehr verwirrend.

Während meiner ersten Therapiesitzung in der Ambulanz klopft es an die Türe. Die Schwester sagt, ein Kollege braucht Hilfe, jetzt sofort.
Ich weiß überhaupt nicht worum es geht, sehe ihn auf dem Flur. Mit einer schlanken Frau. Begleite die beiden in sein Büro. Weiß innerhalb von zwei Sekunden, worum es geht. Ein leerer Maxicosi, die Frau zerfahren, aufgelöst, fahrig in den Händen, fahrig im Blick. Der Kollege sagt, wir gehen auf die Station und besprechen dort in Ruhe weiter.
Wir gehen auf die geschlossene Abteilung.
Sie hat eine Wochenbett Psychose.
Die Angst, die Verwirrung, die Paranoia ist greifbar.
Die Frau ist ungefähr in meinem Alter. Ihr Baby 2 Wochen alt.
Sie fragt mich "sind Sie real?",
ich sage, "und wie, und ich bleibe bei Ihnen, während mein Kollege alles organisiert, was Sie jetzt brauchen."
Wir setzen uns in ein Arztzimmer.
Aus der Situation heraus ist mir klar, dass mein Kollege sie untergebracht hat, eine Behandlung nun per Psychiatrie Krankengesetz stattfindet, auch gegen ihren Willen.
Sie redet schnell. Erzählt, dass sie nicht mehr schlafe, so durcheinander sei, nicht wisse ob sie Dinge wirklich erlebe oder sich nur einbilde. Sie mißtraue allen, vor allem ihrem Mann. Obwohl er doch so bemüht sei. Sie können sich auch immer wieder zusammen reißen, dann wieder verliere sich alles, vor allem nachts.
Ich sage, "ich weiß, vor allem die Nächte sind so anders", sage, "Weltraumangst". Sie sieht mich an und fragt, ob ich das auch kenne. Ich sage "ja, das kennt, mehr oder weniger stark ausgeprägt, eine Frau von fünf." Sie nimmt meine Hände, fragt nach ob ich ihr das versprechen könne, wirklich so viele, wirklich eine von fünf. Sie habe gedacht, wenn überhaupt, wäre eine von zehntausend so wie sie. So unfähig.
Ich verspreche es ihr. Eine Frau von fünf erlebt psychische Veränderungen rund um Schwangerschaft, Entbindung und Wochenbett. Angst, Depression, Suizidalität, Psychose. Es ist der Gehirnstoffwechsel. Der gerät durcheinander. Durch die Hormone, durch Veranlagung, durch Belastungen in der Schwangerschaft, durch Traumata früher im Leben, durch Pech. Ich zeichne es ihr auf. Zu viel Dopamin, zu wenig Serotonin im Gehirn. Im Körper zu viel Adrenalin. Sie sagt, sie sei Wissenschaftlerin. Damit könne sie etwas anfangen. Ich antworte, "es ist simpel, es ist häufig, wir können es behandeln - aber es fühlt sich furchtbar an. Schrecklich und einsam und sehr, sehr irre." Wir lachen. Ja, irre sei sie gerade, antwortet die Frau. Jemand klopft an die Türe, holt etwas aus dem Büro. Die Frau fragt, "war der gerade wirklich hier?"
Ich sage ihr, dass sie eine Psychose hat. Das ist der Name, den ihr Zustand hat.
Sie weint. "Wirklich Psychose?" Ich antworte, "ein schreckliches Wort für einen schrecklichen Zustand." Sage, "wir können das behandeln, so bleibt es nicht." Male ihr auf, wie und wo an den Gehirnzellen die Medikamente wirken. Sie fragt nach dem Stillen, das Baby habe doch Hunger. Weint wieder. Ich sage, "das wäre auch meine größte Sorge in Ihrer Situation." Sage, "das Baby bekommt Milch, so oder so, das ist keine Schwierigkeit. Die Flasche ist kein Problem, die Weltraumangst schon."
Sie weint. Sagt, ihr Mann wäre dann sicher entäuscht. Ich antworte, "wir erklären es ihm, er wird froh sein, Sie zurück zu bekommen."
Sie fragt, "darf ich den Zettel behalten?" Nimmt den Zettel mit, auf dem ich die Gehirnzellen und die Botenstoffe und die Medikamente aufgezeichnet habe. Schreibt noch etwas drauf: "es ist der Gehirnstoffwechsel".
Dann wird sie abgeholt vom Fahrdienst. In eine andere Klinik. Ich sage ihr, "machen Sie ruhig Notizen, wenn Sie gerne schreiben. Viel verrückter als heute wird das Leben lange nicht mehr mit einem kleinen Kind." Wir lachen. Sie fragt, ob sie mich kurz drücken darf.
Sie darf.
Ich drücke zurück.
Sie geht und ich bin berührt.

Sage mir. Wir können das behandeln.
Es ist der Gehirnstoffwechsel.
Eine von fünf.
Es wird ihr wieder gut gehen.

Genau das ist es, was ich behandeln will.
Peripartale psychische Belastungen.
Frauen wie wir.
Das ist mein Gebiet.






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