Das Grauen
Nachts werde ich wach. Sehr wach.
Gehe in die Küche. Trinke Milch aus der Packung. Stehe vor meinem Küchentisch. Setze mich an den Küchentisch und schreibe eine Liste.
Besser gesagt, ich möchte eine Liste schreiben. Mit den Namen der Patienten, die sich das Leben genommen haben. Eine Liste meiner toten Patienten sozusagen.
Ich schreibe ganz oben auf den Zettel den Namen des ehemaligen Patienten, von dessen Tod ich gestern erfahren habe.
Und dann habe ich das erste Black Out meines Lebens - ich weiß nicht, wie die anderen geheißen haben.
Obwohl jeder einzelne.
Jeder Patient.
Jeder Name.
Jede Geschichte.
Absolut unvergesslich sind.
Mich prägen. Seither. Immer.
Es sind 6 Menschen.
6 Katastrophen.
Ich habe gestern Nacht das Gefühl diese Liste zu brauchen. Um es zu überblicken.
Sitze eine Weile. Kriege es nicht zusammen.
25 Menschen nehmen sich in Deutschland jeden Tag das Leben. Weltweit alle 40 Sekunden einer. Durchschnittlich betrifft jeder Suizid 60 andere Menschen. Familie, Freunde, Arbeitskollegen.
Behandler.
Zeugen.
Polizisten, Feuerwehrmänner, Rettungssanitäter.
Ein Suizid ist wie eine Atombombe.
Es bleibt das Grauen zurück.
Als ob etwas freigesetzt würde. Etwas zurück bliebe. Bei den anderen.
Etwas sehr Schlimmes.
Vielleicht ist es das, was vorher denjenigen beherrscht hat, der sich das Leben nimmt. Das Grauen.
Erreicht alle, die eine Verbindung haben zu demjenigen, der.
Das Grauen.
Die Verzweiflung, das Schuldgefühl.
Das Gefangen-sein in Fragen, die nicht beantwortet werden können.
Das Grauen bleibt da.
Bleibt in denen, die eine Verbindung hatten.
Ich denke, es ist letztlich der einzige Hinweis auf ein mögliches Warum, ein mögliches Ausmaß der vormals inneren Katastrophe desjenigen, der.
Den einen Grund gibt es nie.
Eine Erklärung gibt es auch nicht.
Keine Antwort.
Immer nur das Fragen und Annähern und Aushalten müssen, es nicht zu wissen.
Dieses Grauen. Kann man, muss man aktiv und bewusst raus arbeiten aus sich. Es lösen aus sich. Es frei setzen. Befreien. Erlösen. Durch reden. Laufen. Tanzen. Weinen. Beten. Durch noch mehr reden. Singen.
Sich klar machen. Das bin nicht ich. Das ist nicht derjenige, der. Das ist die Erkrankung. Es soll nicht Teil bleiben von einem selbst. Oder einer Erinnerung. Es gehört rausgearbeitet, losgelassen.
Manchmal denke ich, dadurch, dass man es wandelt, es löst, hilft man demjenigen, der. Hilft, denjenigen zu befreien.
Ruhe zu finden.
Ich habe diesen Patienten zuletzt vor 6 Monaten telefonisch gesprochen. Wegen einer Formalität.
Zuletzt vor 3 Jahren behandelt.
Und trotz dieses Abstands. Erreicht mich ein Anflug dieses Grauens.
Das Eingeengte im Denken.
Ich denke den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend gestern, den ganzen Tag heute nur darüber nach, was schief gegangen ist in der Folgebehandlung, mit der Medikation, was die Krankheitseinsicht und die Bereitschaft sich behandeln zu lassen gestört haben könnte.
Denke sogar kurz, ob mich nicht der Anruf hätte aufmerksam machen sollen.
Ein ehemaliger Patient taucht auf.
Niemals nur wegen einer Formalität.
Die alte Regel.
Wir sagen, wenn man plötzlich über einen ehemaligen Patienten spricht, muss der dringend gesehen werden.
Dann ist er in der "Pipeline". Sagen wir.
Das Gespräch zur Therapie Pause verläuft besser als befürchtet.
Ich bin sehr betroffen.
Die Patientin auch.
Ich betone und betone immer wieder, dass es weiter gehen soll ab Februar.
Ungestört dann.
Mit Gruppe.
Bin hinterher erleichtert.
Und auch ein bißchen besorgt, ob meine Betroffenheit zu deutlich spürbar war und zu viel Raum eingenommen hat.
Einerseits.
Andererseits.
Es war keine Therapiestunde.
Es war ein Abmachen und Besprechen der Konsequenz.
Bin dann beim Orthopäden.
Ich habe ein Ganglion.
Am Handgelenk.
Woher plötzlich diese Merkwürdigkeiten kommen an meinem Körper, frage ich mich.
Und was soll unternommen werden.
Die Orthopädin sagt, "in alten Lehrbüchern wird empfohlen, fest mit der Bibel drauf zu hauen." - "Ich bin katholisch", sage ich, "damit kann ich etwas anfangen." Sie lacht, sagt, es ginge um den Druck. Man könne es weg drücken. Aber das würde ein bißchen weh tun. "Macht nix", sage ich, "ich bin hart im Nehmen." Sie fragt, "soll ich mal eben?" Und ich sage "bitte unbedingt".
Und dann drückt sie mit dem Daumen das Ganglion fest in mein Handgelenk. Es tut weh. Aber nicht sehr.
Und dann ist es weg.
"Großartig", sage ich, "Sie haben mich geheilt." Sie sagt, "Orthopädie ist sehr einfältig, kein Hexenwerk."
Ich finde, wenn man schon niemanden gesund lieben kann ist es wirklich, wirklich fantastisch, dass man gesund gedrückt werden kann.
Gehe in die Küche. Trinke Milch aus der Packung. Stehe vor meinem Küchentisch. Setze mich an den Küchentisch und schreibe eine Liste.
Besser gesagt, ich möchte eine Liste schreiben. Mit den Namen der Patienten, die sich das Leben genommen haben. Eine Liste meiner toten Patienten sozusagen.
Ich schreibe ganz oben auf den Zettel den Namen des ehemaligen Patienten, von dessen Tod ich gestern erfahren habe.
Und dann habe ich das erste Black Out meines Lebens - ich weiß nicht, wie die anderen geheißen haben.
Obwohl jeder einzelne.
Jeder Patient.
Jeder Name.
Jede Geschichte.
Absolut unvergesslich sind.
Mich prägen. Seither. Immer.
Es sind 6 Menschen.
6 Katastrophen.
Ich habe gestern Nacht das Gefühl diese Liste zu brauchen. Um es zu überblicken.
Sitze eine Weile. Kriege es nicht zusammen.
25 Menschen nehmen sich in Deutschland jeden Tag das Leben. Weltweit alle 40 Sekunden einer. Durchschnittlich betrifft jeder Suizid 60 andere Menschen. Familie, Freunde, Arbeitskollegen.
Behandler.
Zeugen.
Polizisten, Feuerwehrmänner, Rettungssanitäter.
Ein Suizid ist wie eine Atombombe.
Es bleibt das Grauen zurück.
Als ob etwas freigesetzt würde. Etwas zurück bliebe. Bei den anderen.
Etwas sehr Schlimmes.
Vielleicht ist es das, was vorher denjenigen beherrscht hat, der sich das Leben nimmt. Das Grauen.
Erreicht alle, die eine Verbindung haben zu demjenigen, der.
Das Grauen.
Die Verzweiflung, das Schuldgefühl.
Das Gefangen-sein in Fragen, die nicht beantwortet werden können.
Das Grauen bleibt da.
Bleibt in denen, die eine Verbindung hatten.
Ich denke, es ist letztlich der einzige Hinweis auf ein mögliches Warum, ein mögliches Ausmaß der vormals inneren Katastrophe desjenigen, der.
Den einen Grund gibt es nie.
Eine Erklärung gibt es auch nicht.
Keine Antwort.
Immer nur das Fragen und Annähern und Aushalten müssen, es nicht zu wissen.
Dieses Grauen. Kann man, muss man aktiv und bewusst raus arbeiten aus sich. Es lösen aus sich. Es frei setzen. Befreien. Erlösen. Durch reden. Laufen. Tanzen. Weinen. Beten. Durch noch mehr reden. Singen.
Sich klar machen. Das bin nicht ich. Das ist nicht derjenige, der. Das ist die Erkrankung. Es soll nicht Teil bleiben von einem selbst. Oder einer Erinnerung. Es gehört rausgearbeitet, losgelassen.
Manchmal denke ich, dadurch, dass man es wandelt, es löst, hilft man demjenigen, der. Hilft, denjenigen zu befreien.
Ruhe zu finden.
Ich habe diesen Patienten zuletzt vor 6 Monaten telefonisch gesprochen. Wegen einer Formalität.
Zuletzt vor 3 Jahren behandelt.
Und trotz dieses Abstands. Erreicht mich ein Anflug dieses Grauens.
Das Eingeengte im Denken.
Ich denke den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend gestern, den ganzen Tag heute nur darüber nach, was schief gegangen ist in der Folgebehandlung, mit der Medikation, was die Krankheitseinsicht und die Bereitschaft sich behandeln zu lassen gestört haben könnte.
Denke sogar kurz, ob mich nicht der Anruf hätte aufmerksam machen sollen.
Ein ehemaliger Patient taucht auf.
Niemals nur wegen einer Formalität.
Die alte Regel.
Wir sagen, wenn man plötzlich über einen ehemaligen Patienten spricht, muss der dringend gesehen werden.
Dann ist er in der "Pipeline". Sagen wir.
Das Gespräch zur Therapie Pause verläuft besser als befürchtet.
Ich bin sehr betroffen.
Die Patientin auch.
Ich betone und betone immer wieder, dass es weiter gehen soll ab Februar.
Ungestört dann.
Mit Gruppe.
Bin hinterher erleichtert.
Und auch ein bißchen besorgt, ob meine Betroffenheit zu deutlich spürbar war und zu viel Raum eingenommen hat.
Einerseits.
Andererseits.
Es war keine Therapiestunde.
Es war ein Abmachen und Besprechen der Konsequenz.
Bin dann beim Orthopäden.
Ich habe ein Ganglion.
Am Handgelenk.
Woher plötzlich diese Merkwürdigkeiten kommen an meinem Körper, frage ich mich.
Und was soll unternommen werden.
Die Orthopädin sagt, "in alten Lehrbüchern wird empfohlen, fest mit der Bibel drauf zu hauen." - "Ich bin katholisch", sage ich, "damit kann ich etwas anfangen." Sie lacht, sagt, es ginge um den Druck. Man könne es weg drücken. Aber das würde ein bißchen weh tun. "Macht nix", sage ich, "ich bin hart im Nehmen." Sie fragt, "soll ich mal eben?" Und ich sage "bitte unbedingt".
Und dann drückt sie mit dem Daumen das Ganglion fest in mein Handgelenk. Es tut weh. Aber nicht sehr.
Und dann ist es weg.
"Großartig", sage ich, "Sie haben mich geheilt." Sie sagt, "Orthopädie ist sehr einfältig, kein Hexenwerk."
Ich finde, wenn man schon niemanden gesund lieben kann ist es wirklich, wirklich fantastisch, dass man gesund gedrückt werden kann.